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Bergfreunde

Suffering in Ecstasy

Inhaltsverzeichnis

Georg und die steile Nordwand des Ritacuba Blanco

Eine weitere Lehrstunde in Sachen Klettern in widrigen Wetterbedingungen: Bergfreunde Klara und Georg berichten über ihren Versuch den Ritacuba Blanco (5350m) in der Cordillera del Cocuy, in Kolumbien, zu überschreiten. Die zwei erfahrenen Bergsportler kletterten die Linie „Tierra de Condores” (7a+, 800m), als ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte.

Wie Klara und Georg auch ohne Geld, Pass und Ausrüstung von den Kolumbianern beherbergt wurden und was sie sonst noch alles auf Ihrer Tour erlebt haben, berichten sie Euch selbst.

„Ich habe so einen Hunger“… – „Mach die Augen zu, dann meint der Magen, es ist Nacht.“ Es ist zwei Uhr nachmittags, es schneit. Wir sitzen in einer kleinen, feuchten Felshöhle auf 5000 Metern Höhe mitten in unserer 800 Meter hohen Wand, irgendwo im Nirgendwo in Kolumbien. „Urlaub“ genau nach unserem Geschmack… Anstelle zweier Biwaks haben wir nun schon den vierten Biwakplatz in der Wand eingerichtet, für 9 Seillängen der insgesamt etwa 22 haben wir aufgrund des unbeständigen Wetters eine Woche gebraucht. Die Vorräte schwinden, wir haben noch sechs Riegel, vier Suppen und 3 Liter Wasser für weitere 450 vertikale Kletter-Meter. Von wegen stabiles Wetter im Februar! Wenn die Wolkendecke morgen nicht aufmacht, müssen wir all die hart erkämpften Höhenmeter, all die Seillängen, wieder aufgeben. Es ist frustrierend, die Lage scheint aussichtslos.

Der Höchste und der Schönste

“Die Linie „Tierra de Condores“ (7a+, 800m) wird an mobilen Sicherungen geklettert”

Manche Begegnungen sind kein Zufall, so auch die Bekanntschaft mit unserem kolumbianischen Freund Hernan, der uns ein Wandfoto aus seinem Lieblingsgebiet zeigte. Ein Berg mit zwei Gesichtern: von Süden ist der 5350m hohe Ritacuba Blanco, höchster Berg der kolumbianischen Cordillera, eine fast sanft anmutende, weiße Kuppe – von Norden eine senkrechte Felspyramide, wie eine Festung. Kaum bekannt, wenige Begehungen, völlige Abgeschiedenheit in einem unberührten Naturpark. Im Juli erzählt uns Hernan von der Wand, im Februar sind wir schon unterwegs in den Parque Nacional Natural El Cocuy.

Die Linie „Tierra de Condores“ (7a+, 800m) wird an mobilen Sicherungen geklettert, hat aber gebohrte Stände. Als Krönung wartet auf den letzten 350 Metern kombiniertes Gelände am vergletscherten Gipfelaufbau. Das ganze Repertoire an Disziplinen ist gefragt, der Haufen benötigter Ausrüstung riesig. Welcher Abenteuer-Kletterer könnte dieser Herausforderung widerstehen?

Kurz mal den Hügel hinauf

Drei Pässe müssen wir überschreiten, um zur Nordwand des Ritacuba Blanco zu gelangen. Alles in allem ein paar hundert Höhenmeter auf einer Strecke von rund 20 Kilometern. Die Schwierigkeit ist für uns die Höhe, denn wir bewegen uns die ganze Zeit oberhalb der 4000er Grenze. Sechs schwere Haulbags und Rucksäcke liegen am Ende der staubigen Straße, insgesamt an die 120kg. Das Gepäck wird von den hier lebenden Cowboys mit Pferden zum Basislager gebracht, das ist hier Usus, denn es ist ihre einzige Einnahmequelle. Auch aus akklimatisationstechnischen Gründen ist es vorteilhaft, nur mit leichtem Gepäck zu gehen.

“Vorbei an mannshohen Freilejon-Bäumen”

Ein langer, grasiger Hang zieht zum ersten Pass hinauf – kurz Mal den Hügel rauf, daheim eine Angelegenheit von 30 Minuten. Auf dieser Höhe zieht sich der Anstieg wie ein zäher Kaugummi. Von der Scharte fällt der Blick weit in die grüne Landschaft des Nationalparks. Tief unter uns glitzert dunkelblau ein wunderschöner See, an dem wir die Nacht verbringen. Wer richtig akklimatisieren will, muss sich viel Zeit lassen – Zeit zum Leiden. Vorbei an mannshohen „Freilejon“-Bäumen (Espeletia), die mit gelben Blüten übersät sind. Von Weitem stehen sie da wie eine Truppe von Guerillas. Plötzlich kommt mir eine Geschichte meines Kumpels in den Sinn, von seinem Kletter-Abenteuer im Cocuy. „Einen Tagesmarsch von der Zivilisation entfernt und plötzlich stehen an die 15 Guerilla-Kämpfer mit Kalaschnikow über der Schulter vor uns…und zu unserem Erstaunen haben sie uns für unseren Mut bewundert, hier zu klettern!“ So eine Begegnung droht uns nicht, die Kämpfer haben sich mittlerweile in den Norden des Landes zurückgezogen.

Der Puls donnert in den Schläfen, die Atmung geht schnell. Zum Glück ist der Ruhepuls nach einer gefühlt schlaflosen Nacht wieder normal, denn schon stehen die nächsten Höhenmeter an: hinter dem zweiten Pass wartet ein sehr langer, seichter Anstieg bis auf 4800 Meter. Die Landschaft wird zunehmend felsiger, links und rechts erheben sich steile Wände, am Horizont leuchten die ersten Gletschergipfel. Aus dem felsigen grau in grau strahlen vereinzelt gelbe Blumen, ein Traum für jeden Naturliebhaber. Wir hingegen fiebern unserer Wand entgegen! Erst am Nachmittag gibt der dritte Pass den Blick frei: die mächtige Nordwand des Ritacuba Blanco mit ihrem vergletscherten Gipfel strahlt uns entgegen, ein atemberaubend schöner Berg. Allein für diesen Anblick hätte sich der Weg gelohnt.

Wie zum Klettern gemacht

Unser Basislager liegt idyllisch an einem kleinen See, der smaragdgrün leuchtet. Nur wenige hundert Höhenmeter trennen uns vom Fuß unserer Wand, doch mit schweren Rucksäcken ist der Weg eine Bergtour für sich. Vier Mal müssen wir uns durch das steile, sandige Gelände empor arbeiten, bis alles Material und vor allem genug Wasser unter der Wand deponiert sind. Der große Vorteil: wir sind nun bestens akklimatisiert. Am fünften Tag kann es endlich losgehen.

“Unser Basislager liegt idyllisch an einem kleinen See, der smaragdgrün leuchtet”

Senkrecht erhebt sich der rot-braune Fels vor unserer Nase, ein Riss-System führt auf das erste Band. Die Reibung ist gigantisch, die Leisten und Risse wie zum Klettern gemacht. An den wichtigen Stellen lassen sich bomben-sichere Friends versenken, in rundlichen Ritzen sitzen unsere Totemcams wie Klebehaken. Seillänge um Seillänge arbeiten wir uns in den nächsten Tagen weiter hinauf und hinterlassen wie die Spinnen unsere Seile zum Jumaren, denn täglich um die gleiche Zeit schließt sich die Wolkendecke und es regnet. Solange wir genug Seile haben, stört uns das wenig. Wir machen es uns vorerst auf dem überdachten Felsvorsprung in der zweiten Seillänge gemütlich. Unsere Strategie ist einfach: wenn alle Seile in der Wand sind, ziehen wir in ein höheres Biwak um und geben Gas. In einem schnellen Angriff versuchen wir dann, den Gipfel zu erreichen. Wenn wir nur das Wetter etwas besser einschätzen könnten…

Hans bleib do, du woast ja ned wias weda wiad

Die Tour ist ein echter Klettertraum, die Bewegungen unglaublich schön. Jede Seillänge bietet etwas anderes – Risse, Leisten, Dächer. Überhaupt ist die ganze Wand ein Mysterium für sich – wie eine Treppe von unten, voller Dächer. Eigentlich müsste sie vornüber umkippen! Immer wieder lösen sich die unüberwindbar scheinenden Passagen mit verrückten Kletterbewegungen wie von selbst, die Linienführung ist gigantisch. Dennoch sind die Tage lang, weil wir nur vormittags klettern können. Das Wetter will einfach nicht mitmachen. Wir trinken Tee, versuchen aber so wenig wie möglich unserer Vorräte zu verbrauchen. Stundenlang starren wir dann in die Ferne, beobachten, lauschen. Details, für die wir sonst keine Zeit hätten. Die Seenlandschaft tief unter uns sieht von oben betrachtet aus wie ein modernes Gemälde. Eine unglaubliche Formen- und Farbenvielfalt: auf dem türkis-blauen Wasser schwimmen wie grüne Inseln „Cojines“-Polster, eine endemische Pflanze, nach der dieses Tal benannt ist. Andere Seen sind blau, grün, gelb und braun, die Farben verschwimmen ineinander. Hoch über uns ziehen zwei riesige Kondore ihre Kreise. Doch nicht etwa wegen uns? Irgendwie schön, dieses „sich Zeit lassen“ beim Bigwall-Stil, auch wenn wir uns nicht ganz freiwillig dafür entschieden haben.

“Als Leichtere von uns beiden bleibt es an mir, die letzten 50 Meter hinauf zu jumaren”

Es wird Zeit. Inzwischen hängen schon die Halbseile als Einzelstränge in der Wand, viel länger können und wollen wir mit dem Aufbruch in die Wand nicht warten. Wir müssen uns vom Boden und der Sicherheit trennen. Als Leichtere von uns beiden bleibt es an mir, die letzten 50 Meter am Tendon Master 7,8mm hinauf zu jumaren. Wie an einem dünnen Gummiband wippe ich mich empor, das Herz donnert gegen meine Schläfen: vor Anstrengung, aber vor allem wegen dem Adrenalin. Vor meinem geistigen Auge reibt der Strang über die Kante wie auf einem Sägeblatt. Die einzige Hoffnung ist mein unendliches Vertrauen in die Seilunterlage und das gute, neue Seil. Zu allem Überfluss hat heute das Wetter schon um 10 Uhr zugemacht, sodass wir gegen einen unangenehmen Wind arbeiten. Als ich Georg zu unserem Biwak in der 9ten Seillänge nachsichere, ist er ganz steif vor Kälte. Hier sitzen wir also in unserer feuchten Höhle, um zwei Uhr nachmittags und starren in das Schneegestöber. Aus der Traum?

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ein purpur-roter Himmel kündigt den Morgen an. Vor zwei Tagen haben wir den Kontakt zum Boden gekappt und zwei weitere Seillängen erobert. Es fehlen nur noch 3 Seillängen und die 350 Meter kombiniertes Gelände bis zum Gipfel. Morgenrot: Gutwetter-Bot oder Schlechtwetter-Bot? Egal, wir müssen es heute versuchen. Wir verlassen unseren Adlerhorst und klettern nur mit dem Nötigsten. Unter einem strahlend blauen Himmel schrauben wir uns immer höher, endlich ein perfekter Tag. Längst haben wir die Kondore unter uns gelassen und sind im leichten, aber brüchigen Gelände oberhalb der 14ten Seillänge unterwegs. Ab hier ist die Wegfindung schwieriger, die Stände zugeschneit oder eingeeist und deshalb unauffindbar. Die erste Steilstufe im Eis ist dank Steigeisen und Pickel kein Hindernis, wir klettern und queren nun im Wechsel die lange Schneekante hinauf.

“Im Schneetreiben erreichen wir den Gipfel”

Es ist früher Nachmittag, als die Wetterfalle zuschnappt. Längst haben sich wieder dicke Wolken aufgetürmt, die sich nun zu senken beginnen. Für uns gibt es nur noch die Flucht nach oben und den südseitigen Abstieg über den Gletscher, denn ohne Abseilstände schaffen wir es vor dem Sturm nicht nordseitig bis zum Biwak. Eine ungeplante Überquerung also. Wir hetzen am langen Seil simultan nach oben. Teils schimmert das Grün aus dem Tal durch die dünne Schneeschicht, auf der anderen Seite lauern die Spalten. Immer schön in der Mitte bleiben auf unserer Wechte. „Sturz ins Leere“- nein danke! Im Schneetreiben erreichen wir den Gipfel, der ohne Aussicht eine weiße Kuppe im weißen Schneegestöber ist. Und dennoch, wir haben es geschafft – doch die Anspannung bleibt. Den Abstieg über den Gletscher kennen wir nur aus Beschreibungen, die Spuren der vielen Gipfelaspiranten von Süden verschwinden rasend schnell im Neuschnee.

Zurück auf Los

Jetzt ist meine Begabung als Fährtenleser gefragt. Kontrolliert sichern wir uns gegenseitig die Steilstufe bis zur berüchtigten Gletscherspalte hinunter. Eine schmale Schneebrücke führt über die Spalte, die locker ein Haus verschlingen würde. Doch für gruseln ist jetzt keine Zeit. Wieder heißt es vertrauen, diesmal in die Pickelsicherung des jeweils Anderen. 30 Sekunden Herzstillstand später haben wir die Schlüsselstelle des Abstiegs hinter uns gebracht. Immer wieder verlieren wir die Steigspuren und finden sie wieder, über steile Schneehänge gelangen wir bald ins flache Felsgelände. Erst hier fällt uns auf, wie die Anspannung der letzten Stunden an den Kräften gezehrt hat. Noch schlimmer ist aber, dass wir auf der anderen Seite des Berges stehen, am Ausgangspunkt unserer Expedition: mit zwei Halbseilen und durchnässten Klamotten. Kein Pass, kein Geld, die komplette Ausrüstung ist in der Wand verteilt. Und jetzt?

“Übernachten unter einem Felsvorsprung im mit Heu ausgelegten Lager der Hirten”

Kein Problem, wir sind in Kolumbien. Die Wirtsleute der Herberge kurz vor dem Cocuy Nationalpark haben kein Problem damit, uns Essen und Quartier zu geben und darauf zu vertrauen, dass wir auf dem Rückweg alles bezahlen. Drei Anrufe und einen Tag später hat uns Hernan wie durch ein Wunder aus der Ferne zwei Leih-Schlafsäcke organisiert. Zum zweiten Mal gehen wir den zweitägigen Zustieg zum Basislager, übernachten unter einem Felsvorsprung im mit Heu ausgelegten Lager der Hirten. Am See wartet unser Zelt, aber noch sind wir ohne Isomatten. Wir müssen fast die kompletteTierra de Condoresnoch einmal klettern, um unsere Ausrüstung zu bergen. Es ist die Chance, die wunderschönen Kletterbewegungen richtig zu genießen, da wir nicht mehr auf den Gipfel müssen. Stück für Stück bergen wir unsere Ausrüstung, freuen uns über jedes Stück wie ein Geschenk an Weihnachten. Die Isomatte, der eigene Schlafsack, der Kocher.

So fühlt es sich an, nach einer entbehrungsreichen Zeit die kleinen Dinge wieder zu schätzen. Was sind ein paar Tage mit weniger Proviant im Vergleich zum erlebten Abenteuer? Ein bisschen frieren im Vergleich zu all den Erfahrungen, die wir sammeln durften? Im Nachhinein ist selbst unsere feuchte Höhle in der Wand ein besonderer Ort, an den wir uns oft zurückerinnern. Bei dieser riesigen Auswahl an Wänden und Routen wird es sicher nicht nur bei diesem einen Besuch im Cocuy bleiben!

Material-Empfehlungen:

Tendon Master 7.8mm (Halbseile), Master 8.9mm (Einfachseil), Statikseil 10.0 mm

Singing Rock Klettergurte, Helme, Karabiner, Expressen, Shuttle, Seilrollen, Steighilfen

Totemcams und Basic Totemcams, Camalots

Triop Tiger Kletterschuhe

Optimus Polaris Kocher (Benzin und Gas) mit Optimus Terra Lite HE Cook Set Töpfen

LEKI Micro Vario Carbon

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Bergfreund Gastautor

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